Versagen der sozialen Marktwirtschaft
Seit einigen Jahren mehren sich Stimmen, die ein „Versagen der sozialen Marktwirtschaft“ diagnostizieren.
Steigende Mieten, stagnierende Löhne, Vermögenskonzentration, überforderte Infrastrukturen und zunehmende soziale Spaltung scheinen den Glauben an das Modell zu erschüttern.
Doch diese Diagnose verkennt eine zentrale Tatsache: Das, was heute wirtschaftlich dominiert, ist keine soziale Marktwirtschaft mehr – sondern ein entgrenzter Kapitalismus, der ihre Korrekturmechanismen der sozialen Marktwirtschaft ausgehöhlt hat.
Die ursprüngliche Idee der sozialen Marktwirtschaft
Die soziale Marktwirtschaft, wie sie in Deutschland nach 1949 eingeführt wurde, beruhte auf drei Kernprinzipien:
1. Wettbewerbssicherung (Ordnungspolitik):
Staatliche Regulierung sollte Monopole verhindern und Marktmacht begrenzen.
2. Soziale Absicherung
Über Sozialversicherungen und Umverteilung sollten Abstiegsrisiken reduziert und gesellschaftlicher Ausgleich gesichert werden.
3. Rahmensetzung, statt machen lassen
Der Staat sollte nicht eingreifen trotz Markt, sondern damit der Markt funktionieren kann.
Das Modell ging davon aus, dass Märkte ohne Regeln zu Instabilität, Ungleichheit und Machtkonzentrationen führen. Genau diese Erkenntnis hat die Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte schrittweise ignoriert.
Die schleichende Erosion
Von der sozialen Marktwirtschaft zum Deregulierungs-Kapitalismus. Seit den 1980er Jahren haben Deutschland und viele westliche Staaten zentrale Elemente ihrer sozialen Marktwirtschaft zurückgefahren
Deregulierung und Privatisierung
> Liberalisierung der Finanzmärkte
> Privatisierung öffentlicher Infrastruktur (Bahn, Post, Energie, Krankenhäuser, Wohnungsbestände)
> Abbau staatlicher Steuerungsfähigkeit
Schwächung der Arbeitnehmerseite
> Rückgang der Tarifbindung
> Ausweitung prekärer Beschäftigung
> Abnahme gewerkschaftlicher Macht
> Leiharbeit und Werkverträge in Kernbranchen
Folge: Produktivitätsgewinne kommen immer weniger in Löhnen an.
Steuerpolitische Verschiebungen
> Senkung der Spitzensteuersätze und Unternehmenssteuern
> Abschaffung oder Reduktion der Vermögensteuer
> Begünstigung von Kapital gegenüber Arbeit
Folge: Vermögen konzentriert sich, die Mittelschicht erodiert.
Reduktion sozialstaatlicher Investitionen
> Unterinvestition in Bildung, Wohnen, Gesundheit und Infrastruktur
> Orientierung am „schwarzen Null“-Paradigma
Folge: Sinkende soziale Mobilität und strukturelle Ungleichheit.
Diese Entwicklungen sind nicht „Versagen“ einer sozial marktwirtschaftlichen Ordnung – sie sind die Abkehr von ihr.
Kapitalismus ohne Leitplanken
Kapitalismus folgt einer einfachen Logik: Kapital sucht Rendite.
Ohne regulierende Eingriffe produziert dieses System jedoch strukturelle Probleme, die politisch schwer kontrollierbar werden.
Macht- und Vermögenskonzentration
Kapital tendiert zur Konzentration. Ohne Regulierung entstehen Oligopole und Monopole.
Tatsächlich zeigt sich:
> steigende Dominanz weniger Tech-Konzerne
> globale Vermögenskonzentration
> sinkender Wettbewerb in zentralen Märkten
Das widerspricht fundamental dem ordoliberalen Ideal.
Soziale Spaltung
Ungleichheit ist keine Fehlfunktion, sondern die logische Folge ungebremster Kapitalverwertung. Sie führt zu:
> Abnahme sozialer Kohäsion
> politischer Polarisierung
> Erosion demokratischer Institutionen durch Lobbyismus
Fehlallokation von Ressourcen
Preislogiken setzen falsche Anreize:
> Unterinvestitionen in öffentliche Güter
> Überinvestitionen in Immobilien- und Finanzsektor
> Klimaschäden werden externalisiert
Der Markt korrigiert diese Probleme nicht; er verstärkt sie.
Falsche Begriffe – falsche Diagnosen
Wenn wirtschaftliche Dysfunktionen als „Scheitern der sozialen Marktwirtschaft“ bezeichnet werden, führt das zu Fehlinterpretationen:
> Als sei das Modell selbst ungeeignet
> Als seien Sozialpolitik oder Regulierung das Problem
> Als müsse der Staat sich zurückziehen
In Wahrheit zeigt die empirische Entwicklung, dort, wo die soziale Marktwirtschaft zurückgedrängt wurde, traten die dysfunktionalen Effekte des Kapitalismus zutage.
Was eine moderne soziale Marktwirtschaft heute erfordern würde
Ein zeitgemäßes Modell müsste zentrale ordnungspolitische Prinzipien neu stärken:
Wettbewerbspolitik
> strikte Begrenzung von Marktmacht
> konsequente Kartellaufsicht (auch global)
> Regulierung digitaler Plattformen
Faire Verteilung
> Wiederbelebung der Tarifbindung
> progressive Vermögens- und Erbschaftsbesteuerung
> Stärkung der Sozialsysteme
Öffentliche Daseinsvorsorge
> Rückverlagerung kritischer Infrastruktur in demokratische Kontrolle
> öffentliche Investitionsoffensiven in Bildung, Pflege, Wohnen, Verkehr
Nachhaltigkeitsorientierung
> CO₂-Bepreisung mit sozialem Ausgleich
> Regulierung externer Effekte
> langfristige Investitionsprogramme
Mit anderen Worten: Eine Rückkehr zu den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft, nicht zu ihrer neoliberalen Verzerrung.
Was eine moderne soziale Marktwirtschaft heute erfordern würde
Fazit
Die aktuelle ökonomische und soziale Schieflage ist nicht das Ergebnis eines gescheiterten Modells – sondern das Resultat seiner Demontage.
Nicht die soziale Marktwirtschaft hat versagt, sondern die Entscheidung, sie durch marktradikale Politik zu ersetzen.
Wer den heutigen Zustand kritisiert, kritisiert nicht das ursprüngliche System, sondern dessen Abschaffung. Die Frage ist daher nicht, ob die soziale Marktwirtschaft gescheitert ist, sondern ob wir den politischen Willen haben, sie wiederherzustellen.
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