Artikel 1 und 3 des Grundgesetzes, sind keine wohlklingenden Leitgedanken, sondern die tragenden Säulen der Verfassung.
Wo der Mensch nach ökonomischem Nutzen bewertet wird, ist der Weg zur Entwertung nicht weit. Wenn Sozialpolitik selektiert, gerät die Demokratie ins Rutschen.
Das beste Beispiel ist die Beitragsbemessungsgrenze. Diese sorgt dafür, das Spitzenverdiener:innen, unter den Arbeitnehmer:innen, teilweise geringere Beitragslast für die Kranken- und Pflegeversicherungsbeibeiträge der gesetzlichen Krankenversicherung haben, wie Rentnerinn:en. Beide gehören der Kategorie Mensch an!
Die Geschichte zeigt: Demokratische Ordnungen zerfallen nicht zuerst an offenen Angriffen, sondern an stillen Verschiebungen ihrer Maßstäbe. Wenn Gleichheit nicht mehr als Grundrecht gilt, sondern als Belohnung, wird sie zur Dispositionsmasse politischer Mehrheiten.
Genau hier liegt die Gefahr der gegenwärtigen Sozialdebatte. Sie verhandelt soziale Rechte nicht mehr als Ausdruck gleicher Würde, sondern als Investition, deren „Rendite“ stimmen müsse.
Wer nicht ausreichend beiträgt, nicht flexibel genug ist oder nicht in die ökonomische Verwertungslogik passt, wird zum Kostenfaktor erklärt. Der Mensch wird nicht mehr geschützt – er wird kalkuliert. Diese Logik ist nicht neutral. Sie produziert gesellschaftliche Hierarchien, legitimiert Ausgrenzung und verschiebt Verantwortung vom Staat auf das Individuum. Strukturelle Probleme werden individualisiert, politische Entscheidungen moralisch aufgeladen. Armut erscheint dann nicht mehr als Folge politischer Rahmenbedingungen, sondern als persönliches Versagen.
Damit wird ein zentrales Versprechen der Demokratie unterlaufen: dass Grundrechte gerade dort gelten, wo Menschen schwach, abhängig oder verletzlich sind. Wer soziale Sicherheit an Bedingungen knüpft, verwandelt Rechte in Privilegien – und Privilegien können entzogen werden.
Autoritäre Politik beginnt nicht erst mit Repression. Sie beginnt dort, wo Menschen nach Nützlichkeit sortiert werden, wo Solidarität zur Verhandlungsmasse wird und wo der Staat seine Schutzfunktion durch Disziplinierungsmechanismen ersetzt. Eine Demokratie, die ihre sozialen Grundlagen preisgibt, höhlt sich selbst aus.
Artikel 1 und 3 des Grundgesetzes sind deshalb keine wohlmeinenden Appelle, sondern eine rote Linie. Sie schützen den Menschen nicht, weil er leistet, sondern damit er leben kann, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Wer diese Linie überschreitet, mag Haushaltszahlen optimieren – beschädigt die Verfassung aber im Kern.
Oder anders gesagt:
Wo Geld zum Maßstab der Menschenwürde wird, ist die Demokratie bereits auf dem Rückzug.
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